Originalbericht publiziert in „SchiedsVZ 2023, 224“, beziehbar unter https://beck-online.beck.de/
Von Dr. Nicole Grohmann, Hamburg*
Schiedsgerichte vs. Commercial Courts. Kaum ein Thema wurde in den letzten Wochen in Rechtskreisen so häufig und kontrovers diskutiert, wie das Verhältnis der Schiedsgerichtsbarkeit zu den sog. „Commercial Courts“. Hinter dieser Bezeichnung verbergen sich – nach der jüngsten Definition des Referentenentwurfs des BMJ1 – designierte Zivilsenate an den Oberlandesgerichten, die das Verfahren in englischer Sprache führen können sollen. Hinter dem Konzept der Commercial Courts steht der wohl verbreitete Wunsch, die staatliche Justiz wieder attraktiver für Wirtschaftsstreitigkeiten zu machen. Hierfür soll insbesondere der Grundsatz der deutschen Sprache als einzig zulässige Gerichtssprache zugunsten der englischen Sprache aufgeweicht werden. Seit Jahren sind die Eingangszahlen in der staatlichen Justiz rückläufig.2 Großkalibrige Streitigkeiten zB aus dem Bereich M&A fehlen.3 Nicht nur der Gesetzgeber vermutet ein Abwandern dieser Streitigkeiten in die Schiedsgerichtsbarkeit.4
Während das BMJ mit seinem Referentenentwurf den inzwischen sechsten Gesetzesvorschlag vorgelegt hat, um die deutsche staatliche Justiz für derartige Verfahren attraktiver zu machen, haben zahlreiche Landgerichte – darunter das Landgericht Frankfurt a. M. – nicht auf eine Reaktion des Gesetzgebers gewartet. Bereits im Jahr 2018 hat das Landgericht Frankfurt a. M. den Fortschritt gewagt, vor einer Kammer für „internationale“ Handelssachen zumindest die mündliche Verhandlung in englischer Sprache anzubieten.5
Fünf Jahre nach Beginn dieses Vorstoßes, am 28.4.2023, hat Prof. Olaf Meyer (Frankfurt University of Applied Sciences (UAS)) Experten aus In- und Ausland eingeladen, um der Frage nachzugehen, ob die staatliche Justiz unter Berücksichtigung der geplanten Neuerungen eine Konkurrenz zur Schiedsgerichtsbarkeit darstellt.
I. 1. Panel: International Commercial Courts – Erfahrungen im Ausland
Die Tagung begann mit einem Blick ins Ausland: Moderiert von Prof. André Janssen (Radboud Universität Nijmegen) stellten Prof. Jeroen van der Weide (Universität Leiden), Prof. Michel Cannarsa (Katholische Universität Lyon) und Prof. Lei Chen (Durham University) das niederländische, französische, chinesische sowie singapurische Modell eines Commercial Court vor.
1. Netherlands Commercial Court
Zunächst erstattete Prof. van der Weide Bericht über die niederländische Variante, den Netherlands Commercial Court (NCC), der zum 1.1.2019 in Amsterdam eröffnet wurde. Er begann mit einem Einblick in die Motive zur Errichtung des NCC. So betonte er, dass aus niederländischer Sicht großes Interesse daran besteht, dass Streitigkeiten mit internationalem Bezug in den Niederlanden entschieden werden. Die Niederlande sind nicht nur Sitz großer Unternehmen wie Heineken oder Philips, sondern hätten durch die Shell-Verfahren6 bereits den Umgang mit bedeutenden Wirtschaftsstreitigkeiten bewiesen. Zum NCC nannte Prof. van der Weide die folgenden Eckpunkte:
• Der Begriff NCC beschreibt eine Kammer des Amsterdam District Court sowie einen Senat des Amsterdam Court of Appeal.
• Vor dem NCC entscheiden drei Richter vollständig in englischer Sprache über „international disputes“ nach Gerichtsstandsvereinbarung.
• Die Verfahrensgrundlage bildet die niederländische ZPO, die durch spezielle Regelungen in den NCC Rules of Procedure ergänzt wird.
Der NCC wirbt mit der ständigen Verfügbarkeit seiner hoch qualifizierten Richter, innovativen Verfahrensregeln und kurzen Verfahrensdauern in einem architektonisch beeindruckenden Gebäude.7 Prof. van der Weides empirische Analyse ließ jedoch Zweifel am Erfolg in der Praxis aufkommen: Der NCC kann bisher lediglich 15 abgeschlossene Verfahren vorweisen; eine Zahl, die vor dem Hintergrund, dass sich der NCC hauptsächlich selbst finanzieren soll, für Beunruhigung sorgte. Die Parteien stammten aus 12 unterschiedlichen Ländern, in 14 von 15 Fällen war das niederländische Recht anwendbar. Im Ergebnis resümierte Prof. van der Weide, dass die niedrigen Eingangszahlen der Anfangsjahre nicht gegen den Erfolg des NCC in der Zukunft sprechen würden; die Erwartungen an ein neu erschaffenes Gericht dürften nicht zu hoch angesetzt werden.
2. Chambre commerciale internationale
Anschließend stellte Prof. Cannarsa das französische Modell vor. In Frankreich gibt es bereits seit dem Jahr 1995 eine internationale Kammer am Tribunal de Commerce de Paris, die seit dem Jahr 2018 durch eine chambre commerciale internationale an der Pariser Cour d’Appel unterstützt wird. Prof. Cannarsa betonte, dass aus französischer Perspektive großer Stolz hinsichtlich der grundlegenden Kodifizierungen wie dem Code de Commerce bestehe, die im 19. Jahrhundert auch wegweisende Bedeutung für die Außenwelt entfalteten. Seit dem Jahr 2016 beobachtet Prof. Cannarsa aber auch in Frankreich verstärkt Modernisierungsprozesse, um das französische Recht attraktiver für Unternehmen zu machen. Für die französischen Kammern wies er auf die folgenden Eckpunkte hin:
• In erster Instanz entscheiden drei Laienrichter; an der Cour d’Appel drei Berufsrichter.
• Es können die Regelungen der französischen ZPO durch Parteivereinbarung mit Protokollen ergänzt werden, die common-law-Instrumente wie eine cross examination vorsehen.
• Schriftsätze und Urteil erfolgen in französischer Sprache; die Parteien können eine englischsprachige Version des Urteils erfragen.
Sämtliche Vorzüge dieser Kammern werden in – aus Sicht von Prof. Cannarsa – untypischer Weise im Internet beworben und in Praxishinweisen zusammengefasst. Die ansprechenden Räumlichkeiten der Pariser Cour d’Appel mit Dolmetscherkabinen sollen auch für den Unified Patent Court verwendet werden. Abschließend blickte Prof. Cannarsa ebenfalls auf Zahlen aus der Praxis: Die Parteien vor der internationalen Kammer der Cour d’Appel kommen zu 65 % aus Europa, zu 13 % aus Asien, zu 15 % aus Afrika und zu 7 % aus Amerika. Für hohe Verfahrenszahlen an der Cour d’Appel sorgt dabei die Schiedsgerichtsbarkeit: Seit Januar 2019 ist die Kammer für Vollstreckbarerklärungs- und Aufhebungsverfahren von Schiedssprüchen zuständig. In 51 % der Fälle sind Schiedssprüche der ICC Gegenstand der Verfahren.
3. CICC und SICC
Den internationalen Ausblick beendete Prof. Chen mit seiner Präsentation zweier asiatischer Modelle: Dem China International Commercial Court (CICC) und dem Singapore InternationalCommercial Court (SICC).
Als Hintergrund des CICC nannte Prof. Chen taktische Gründe, die weniger die Attraktivität des Gerichtsstandorts im Ausland, sondern nationale Motive betreffen: So soll der CICC insbesondere Transaktionen aus der Neuen Seidenstraße absichern. Für den CICC hob Prof. Chen die folgenden Eckpunkte hervor:
• Der CICC ist Teil des höchsten Gerichts, des Supreme People’s Court of China, sodass keine Berufungsinstanz zur Verfügung steht.
• Am CICC entscheiden drei oder mehr Richter aus einem zwölfköpfigen Pool spezialisierter Richter.
• Die chinesische ZPO wird durch Procedural Rules für den CICC ergänzt, die die wichtigsten Verfahrensregeln festhalten.
Außerdem präsentierte Prof. Chen die singapurische Variante, den SICC, und hob ebenfalls zunächst die Motive für die Errichtung hervor: So soll der SICC die Probleme der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit (hohe Kosten, übermäßige Verfahrenslängen, fehlende Berufungsinstanz) ausgleichen. Als weiteres Problemfeld der Schiedsgerichtsbarkeit nannte Prof. Chen die fehlende Transparenz aufgrund der Geheimhaltungsmöglichkeiten, die Raum für Korruption schaffen und Singapur als common-law-Staat insbesondere die Grundlage für seine Rechtsfortbildung entziehen würde. Als wichtigste Merkmale des SICC zeigte er die folgenden Eckpunkte auf:
• Der SICC besteht aus einer General Division des High Court und ist in zweiter Instanz Teil des Supreme Court.
• Im Gegensatz zu allen anderen Commercial Courts können am SICC auch internationale Richter entscheiden. Dies wurde durch eine Verfassungsänderung möglich gemacht.
• Gleichermaßen können auch internationale Anwälte nach Registrierung vor dem SICC agieren.
Zum Rechtsstandort Singapur, der insbesondere auch in der Schiedsszene eine große Rolle spielt, merkte Prof. Chen an, dass es eines Commercial Court zur Steigerung seiner Attraktivität wohl nicht gebraucht hätte; ganz nach dem Motto „If it ain’t broke, don’t fix it“.
II. 2. Panel: Das Erkenntnisverfahren
Dem Blick ins Ausland folgte sodann die umfassende Analyse des deutschen Rechtsstandorts. Zunächst setzten sich Dr. Felix Bergmeister (Kammer für internationale Handelssachen (KfiH), LG Frankfurt a. M.), Dr. Markus Burianski (White & Case) und Prof. Thomas Riehm (Universität Passau) mit Aspekten des Erkenntnisverfahrens in der staatlichen Justiz und der Schiedsgerichtsbarkeit auseinander. Dafür haben die Experten unter anderem die folgenden Themenkomplexe beleuchtet:
1. Expertise
Unerlässlich für die Qualität eines Gerichts ist die Expertise seiner Richter. In dieser Hinsicht merkte Dr. Burianski an, dass er es sich nur schwer vorstellen könne, dass ein staatliches Gericht die Expertise eines Schiedsgerichts erreichen kann, in dem besondere Sachkenntnisse durch die Wahl der einzelnen Schiedsrichter gewährleistet werden. Dem schloss sich Dr. Bergmeister an, der bekräftigte, dass es in der ordentlichen Gerichtsbarkeit eher vom Zufall abhänge, ob der gesetzliche Richter spezielle Vorkenntnisse mitbringt. Prof. Riehm betonte in dieser Hinsicht die Wichtigkeit von Kontinuität auf der Richterbank, um einen Commercial Court langfristig auch als Marke aufzubauen.
2. Englisch als Verfahrenssprache
Hinsichtlich der Verfahrenssprache hob Dr. Burianski die große Flexibilität im Rahmen eines Schiedsverfahrens hervor. Als schwierig bewertete er den sprachlichen Bruch zwischen dem geschriebenen und mündlichen Parteivortrag – dieser besteht aktuell in der ordentlichen Gerichtsbarkeit vor den englischsprachigen Kammern wie der KfiH des LG Frankfurt a. M. Dr. Bergmeister sah es für die Effizienz der staatlichen Justiz als notwendig an, dass vorgelegte Urkunden nicht zwingend von der englischen Sprache übersetzt werden müssen und Zeugen in englischer Sprache vernommen werden können. Der Frage, ob am Ende des staatlichen Verfahrens ein englischsprachiges Urteil stehen muss, begegnete Dr. Bergmeister mit Vorbehalten. So habe er hinsichtlich des aktuellen Angebots einer englischsprachigen Verhandlung vor seiner KfiH große Zurückhaltung festgestellt. Abschließend wiesen Dr. Bergmeister und Prof. Riehm auf die Notwendigkeit einer vereinheitlichten englischen Übersetzung der ZPO zur Ermöglichung und Absicherung englischsprachiger Verfahren in der staatlichen Justiz hin. Die aktuelle verfügbare Übersetzung8 bewerteten beide als teilweise veraltet und unpräzise.
3. Bewertung des Referentenentwurfs
Abschließend beurteilten die Experten den aktuellen Referentenentwurf des BMJ. Dr. Burianski äußerte sich dahingehend, dass der Entwurf in die richtige Richtung ginge, aber das Ende der Diskussion wohl noch nicht erreicht sei. Der wirtschaftspolitische Ansatz hinter dem Entwurf sei aber zweifelsfrei begrüßenswert. Vor dem Hintergrund des internationalen Vergleichs stellte Dr. Burianski die föderale Struktur der geplanten Commercial Courts in Frage; so erlaubt der Referentenentwurf Commercial Courts an einem OLG pro Bundesland.9 Prof. Riehm zeigte auf, dass der Entwurf zwar durchaus in begrüßenswerter Weise auch rein nationale Verfahren stärke. So bezieht sich der Anwendungsbereich der sprachlichen Regelungen auf der Ebene der Landgerichte nicht nur auf die Kammern für Handelssachen (KfH), sondern auch auf ausgewählte allgemeine Zivilkammern.10 Jedoch fehlten aus seiner Sicht weitere Elemente, um die Justiz attraktiver zu machen. In dieser Hinsicht verwies Prof. Riehm unter anderem auf die Diskussion um die Zugänglichkeit des deutschen materiellen Rechts. Dr. Bergmeister wies abschließend auf die praktische Realität in der staatlichen Gerichtsbarkeit hin: So seien viele motivierte Kollegen vorhanden, die dem Konzept eines Commercial Court offen gegenüberstehen würden. Diese benötigten jedoch mehr Luft und Zeit, damit sie den „Komfort“ eines Schiedsgerichts bieten könnten.
III. 3. Panel: Die Vollstreckbarkeit der Entscheidung, einstweiliger Rechtsschutz undKosten
Im Nachgang zum Erkenntnisverfahren widmeten sich Dr. Judith Sawang (Ashurst), Dr. Johannes Willheim (Jones Day) und Prof. Stefan Huber (Universität Tübingen) drei weiteren Aspekten eines Zivilverfahrens: der Vollstreckbarkeit der Entscheidung, dem einstweiligen Rechtsschutz und den Kosten.
1. Vollstreckung
Prof. Huber begann mit einem Einblick in die Rechtsinstrumente zur internationalen Vollstreckung. Auf europäischer Ebene hob er die Brüssel Ia-VO hervor, die aufgrund der Abschaffung des Exequaturverfahrens Titelfreizügigkeit gerichtlicher Entscheidungen innerhalb der EU gewährleistet. Auf internationaler Ebene nannte er das Lugano-Übereinkommen im Verhältnis zur Schweiz und die Haager Übereinkommen über Gerichtsstandsvereinbarungen (2005) sowie über die Anerkennung und Vollstreckung (2019). Als Rechtsrahmen der Schiedsgerichtsbarkeit verwies Dr. Sawang auf das New Yorker Übereinkommen, das einen Schiedsspruch aktuell in 172 Staaten (Stand: Juni 2023) vollstreckbar macht. Dr. Willheim merkte in dieser Hinsicht an, dass aus seiner Sicht die Anzahl der Vertragsstaaten nicht das relevante Kriterium im Konkurrenzkampf zwischen staatlicher Justiz und Schiedsgerichtbarkeit sei. Vielmehr gehe es darum, den für den Einzelfall passenden Mechanismus zu finden. Dem pflichtete Dr. Sawang bei, da es Schiedsverfahren gebe, in denen die Vollstreckungsebene aufgrund erheblicher Geheimhaltungsinteressen der Parteien von vornherein keine Bedeutung habe.
2. Einstweiliger Rechtsschutz
Der einstweilige Rechtsschutz wurde als Schwachstelle des Schiedsverfahrens identifiziert. Dr. Sawang verwies in dieser Hinsicht auf den von einigen Schiedsinstitutionen eingeführten emergency arbitrator, der einstweilige Maßnahmen vor Konstituierung des Schiedsgerichts anordnen kann. Dr. Willheim betonte, dass es in dieser kritischen Zeit vor Konstituierung des Schiedsgerichts wichtig sei, dass die staatlichen Gerichte parallel die Kompetenz haben, einstweilige Maßnahmen zu erlassen. Prof. Huber merkte abschließend für die staatliche Gerichtsbarkeit an, dass es in diesem Bereich auf internationaler Ebene an einer einheitlichen Regelung fehle.
3. Kosten
Hinsichtlich der Kosten begann Prof. Huber mit einem Überblick aus der aktuellen Gerichtskostentabelle: So lägen die Gerichtskosten für eine Instanz noch deutlich unter den Kosten für ein Schiedsverfahren. Dies ändere sich jedoch, wenn der volle staatliche Instanzenzug genutzt wird. Dr. Sawang merkte in dieser Hinsicht an, dass es bei den Kosten eines Schiedsverfahrens darauf ankomme, ob ein Einzelschiedsrichter oder ein Gremium aus drei Richtern entscheidet. Vorteilhaft am Schiedsverfahren sei, dass es nur eine Instanz gebe. Die hohen Kosten für die Schiedsinstitutionen resultierten daraus, dass Institutionen wie die ICC den Schiedsspruch eigenständig prüfen, um insbesondere die Vollstreckbarkeit zu gewährleisten. Dr. Willheim ergänzte, dass bei den Kosten eines Schiedsverfahrens nicht nur die Institutionskosten betrachtet werden dürften. Schließlich sei der Instanzenzug zwar ein Kostenfaktor der staatlichen Justiz, jedoch beziehe Dr. Willheim diesen insbesondere bei ungeklärten Rechtsfragen als wichtigen Aspekt in die Beratung seiner Mandanten mit ein.
IV. Round-Table: Diskussion
Den drei Panels schloss sich sodann eine Diskussionsrunde zwischen Dr. Larissa Thole (BMJ) und Dr. Wilhelm Wolf (Präsident, LG Frankfurt a. M.) an, die von Prof. Felix Maultzsch (Goethe Universität Frankfurt) moderiert wurde.
Dr. Thole begann mit der Vorstellung des Referentenentwurfs. Sie hob hervor, dass der Referentenentwurf die allgemeinen Zivilkammern mit in den Blick nimmt, während in den vorangegangenen Gesetzesentwürfen nur die Kammern für Handelssachen Reformgegenstand waren. Die englischsprachigen KfH der LG sollen nun unter dem Namen „Commercial Chambers“ und die Senate der OLG als „Commercial Courts“ firmieren; die Bezeichnung „Commercial Chambers“ ist dabei wegen der Nähe zur Handelskammer unmittelbar auf Kritik gestoßen. Die Commercial Courts sollen anstelle der Commercial Chambers erstinstanzlich bei einem Streitwert ab 1 Mio. EUR durch Parteivereinbarung angerufen werden können. Große Flexibilität zwischen der englischen und deutschen Sprache soll ermöglicht werden. Nur der BGH hat nach Rücksprache mit dem BMJ nicht zugesichert, dass im Revisionsverfahren zwingend auf Englisch verhandelt werden kann. Dies ist ein relevanter Faktor, da die Revision gegen Urteile des Commercial Court ohne Zulassung möglich sein soll.
Dr. Wolf begrüßte den Entwurf des BMJ. Er erläuterte, dass das LG Frankfurt a. M. zu den ersten Landgerichten gehöre, die im Zuge des Brexit versuchten, den vermeintlich neuen Rechtsmarkt zu besetzen, den London als wichtiger Gerichtsstandort für Wirtschaftsstreitigkeiten aufgrund des Wegfalls der europäischen Instrumente zur justiziellen Zusammenarbeit vermeintlich zu verlieren drohte. Weiterhin betonte Dr. Wolf, dass die Diskussion um die Konkurrenz der Rechtsstandorte wichtige Debatten über die deutsche Gerichtsverfassung und Verfahrensführung herbeigeführt habe. So habe die Praxis gezeigt, dass Parteien für komplexe Sach- und Rechtsfragen nicht mehr die Handelsrichter, sondern eine spezialisierte Kammer dreier Berufsrichter suchen. Die neu entstehende Konkurrenz zwischen LG und OLG als erstinstanzliche Option bewertete er als misslich für die bestehenden KfiH sowie für die Arbeitsbelastung der OLG. So skizzierte Dr. Wolf die großen organisatorischen Herausforderungen für die Commercial Courts an den OLG, die aufgrund ihrer Doppelstellung als erste Instanz bei Umsetzung des Referentenentwurfs auch die umfassenden, eigentlich der ersten Instanz vorbehaltenen Tatsachenfeststellungen bewerkstelligen müssten.
In der weiteren Debatte war die föderale Struktur des Referentenentwurfs ein zentraler Diskussionspunkt. Dr. Thole betonte, dass die Regelung, dass Commercial Courts nur an einem OLG pro Bundesland erlaubt seien, einem uferlosen Entstehen von Commercial Courts entgegenwirken solle. Die Länder seien gefragt, sich untereinander abzustimmen und den einzelnen Commercial Courts unterschiedliche Themengebiete zuzuweisen. Prof. Maultzsch stimmte dem insoweit zu, als dass es aufgrund der erwartbaren geringeren Fallmenge notwendig sei, die Zuständigkeit der Commercial Courts enger zuzuschneiden. Dr. Wolf hegte jedoch Zweifel, ob es in dem föderalen Gerichtssystem gelingen werde, die Themengebiete der Wirtschaftsstreitigkeiten zwischen den OLG der Bundesländer stimmig aufzuteilen.
V. Ausblick
Dass das Konzept der Commercial Courts standortübergreifend auf großes Interesse stößt, spiegelt sich auch in den zahlreichen Veranstaltungen zu diesem Themenkomplex wider: Nicht nur in Frankfurt a. M., sondern unter anderem auch in Stuttgart oder Hamburg haben Experten jüngst das Thema beleuchtet.11 Die hier vorgestellte Veranstaltung der Frankfurt UAS hat insbesondere gezeigt, dass alle Bereiche aus Wissenschaft und Praxis gleichermaßen Interesse an einem attraktiven Rechtsstandort Deutschland unter Berücksichtigung aller Konfliktlösungsmechanismen – staatlich und privat – haben. Nun ist es insbesondere die Aufgabe des BMJ, aufgrund des wertvollen Inputs aller Berufsgruppen die Stellschrauben zu identifizieren, an denen gedreht werden sollte, um die staatliche Gerichtsbarkeit weniger zu einem Konkurrenten, sondern jedenfalls zu einem attraktiveren Teil des Gesamtgefüges der deutschen Rechtspflege zu machen.
* Dr. Nicole Grohmann ist Rechtsanwältin im Hamburger Büro der Dispute Resolution Kanzlei Hanefeld.
1 Referentenentwurf des BMJ eines Gesetzes zur Stärkung des Justizstandortes Deutschland durch Einführung von Commercial Courts und der Gerichtssprache Englisch in der Zivilgerichtsbarkeit (Justizstandort-Stärkungsgesetz) vom 25.4.2023.
2 Statistisches Bundesamt, Fachserie 10 Reihe 2.1, Rechtspflege – Zivilgerichte, 2021, 12 f., 42 f.; Kilian AnwBl 2022, 418-419.
3 Grohmann, Internationalisierung der Handelsgerichtsbarkeit, 2022, 13 mwN. So auch Begründung des Referentenentwurfs des BMJ vom 25.4.2023, 13.
4 Jüngst Raeschke-Kessler SchiedsVZ 2023, 158. So auch die Einführung A. zum vorangegangenen Gesetzesentwurf der Länder, BT-Drs. 20/1549, 1; aufgegriffen in der Einführung A. des Referentenentwurfs des BMJ vom 25.4.2023, 1, 14.
5 S. Selbstauskunft des LG Frankfurt a. M. auf der Website Ordentliche Gerichtsbarkeit Hessen. Möglich wird dies durch eine extensive Auslegung der Ausnahmevorschrift in § 185 Abs. 2 GVG, die den Verzicht auf einen Dolmetscher bei hinreichenden Sprachkenntnissen aller Prozessbeteiligten vorsieht.
6 Entscheidungen zur Haftung von Shell und ihrer nigerianischen Tochtergesellschaft wegen durch Ölleck verursachter Schäden des Gerechtshof Den Haag 29.1.2021 – Rs. 200.126.804 und 200.126.834, ECLI:NL:GHDAHA:2021:132; Rs. 200.126.843 und 200.126.848, ECLI:NL:GHDHA:2021:133; Rs. 200.126.849 und 200.127.813, ECLI:NL:GHDHA:2021:134 sowie Entscheidung zur Reduzierung von CO2-Emissionen der Rechtbank Den Haag 26.5.2021 – C/09/571932/HA ZA 19-379, ZUR 2021, 632.
7 Selbstauskunft auf der NCC-Website.
8 Code of Civil Procedure (ZPO) des BMJ abrufbar unter www.gesetze-im-internet.de.
9 § 119 b Abs. 1 S. 1 GVG-E des Referentenentwurfs des BMJ vom 25.4.2023, 5.
10 § 184 a Abs. 1 Nr. 1 GVG-E des Referentenentwurfs des BMJ vom 25.4.2023, 6.
11 Stuttgarter Commercial Court Symposium am 8.5.2023. Die DIS40 Nord hat am 11.5.2023 in Hamburg ein Streitgespräch organisiert; eine Neuauflage dieser Veranstaltung ist für Mai 2024 geplant.